Dienstagsgespräch
Birk Weiberg
Die postfotografische Kamera
Eine Reihe soziotechnischer Entwicklungen der letzten Jahrzehnte hat zur Hinterfragung der Bedeutung und Ästhetik fotografischer Bilder geführt. Verändert haben sich aber nicht nur die Bilder, sondern auch die Apparate, die für ihre Produktion genutzt werden.
Kameras scheinen heute überall zu sein und sind als konkrete Objekte doch schwieriger zu fassen als früher, weil sich Teile ihrer Funktionen von der Hardware in die Software verlagern. Die dadurch entstehende Fluidität eröffnet ein neues diskursives Feld, das Hito Steyerl als “Proxy Politics” beschrieben hat und in dem sich wirtschaftliche, politische und ästhetische Interessen begegnen. Viele künstlerische Praktiken haben auf diese Situation mit Versuchen einer Aneignung des Apparates reagiert. Im Vortrag wird es sowohl einen Überblick über aktuelle Positionen geben als auch einen Rückblick auf mögliche Vorläufer der Computational Photography in der konzeptuellen Fotografie der 1960er Jahre. Im Zentrum wird aber die Frage stehen, ob und wie man Kameras heute anders denken kann und muss.
Birk Weiberg studierte Kunstwissenschaft, Philosophie und Medienkunst und forscht an der Zürcher Hochschule der Künste und der Hochschule Luzern zur Geschichte und Ästhetik technischer Bilder sowie zur Rolle der Technik in zeitgenössischen, künstlerischen Praktiken. Er war Visiting Scholar am California Institute of the Arts und Junior Fellow am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie, Weimar.
“I wanna be a photographer but I know shit about it“ – oder: Warum und wie Fotografen von heute eine differenzierte Position zu Momentaufnahmen, Handyfotos und Massenmotiven einnehmen sollten.
Birk Weiberg forscht seit 2018 in Luzern am Projekt „Post-Photography“. Weil aktuelle Fotografie eben zu einem Medium der Massen und des Alltagskonsums geworden ist, beschäftigt er sich sowohl mit der konzeptionellen Fotografie im Laufe der Zeit und der Entwicklung ihrer Apparate, wie auch mit der Frage nach Bedeutung und Nutzen im heutigen Kontext. Getreu dem Motto „Masse statt Klasse“ verschwimmt der Qualitätsbegriff der Fotografie heute mehr denn je: Was ist Schnappschuss und was Fotografie?
Die Postfotografie sieht die Antwort darauf hinter dem Prozess des Bildermachens, indem Fotos die Qualität der reinen Abbildung verlassen und nicht nur ein Bild darstellen, sondern auch eine Botschaft beinhalten. So beziehen sich Fotos nicht mehr auf sich selbst, sondern kreieren Querverbindungen zwischen sich und thematischen Inhalten, denn „Fotografie ist keine Kunst mehr; die neue Kunst ist es, den Bildern eine tiefere Bedeutung zu geben“.
Auch wenn die klassische Fotografie sich noch auf das Abbilden fokussierte, fand sich der Aspekt der Verknüpfung von Fotograf, Fotografie und Kamera schon in ihr wieder: Im Prozess des Fotografierens, wie auch beim Entwickeln, hinterlässt der Fotograf Spuren. Er bringt sozusagen seine Persönlichkeit ins Bild – würde man ihn austauschen, wäre das Foto nicht dasselbe.
Bei der Betrachtung des Zusammenspiels von Kamera und Fotograf geht Weiberg auf Vilém Flusser ein, der die Kamera als Apparat sieht und den „Mensch[en] als Spieler und Funktionär eines komplexen Spielzeugs“ beschreibt. Der Begriff der Kamera wird damit allgemein eine Metapher für die fotografische Geste, die Neugierde und die Kombination von Mensch und Apparat.
Neue, technologisierte Kameras, wie z.B. die des iPhones, welche sich durch intelligente Bildanalysemechaniken während des Fotografierens verselbstständigt, haben demnach nichts mehr mit der ursprünglichen fotografischen Geste nach Flusser zu tun. Die Kamera löst das Bild zunehmend von der Hand des Fotografen.
Darauf führt Weiberg die Problematik und die allgemein negative Wahrnehmung von Bildern im heutigen Kontext an: Täglich strömen Bildermassen auf uns ein, Bilder werden fast immer – bewusst und unbewusst – manipuliert. Kameras werden nicht nur immer besser, sondern auch intelligenter. Sie fangen an, Bilder und Motive für den Fotografen zu analysieren und unbemerkt zu verändern. Die Motivik und Inhalte der meisten Bilder verlieren an origineller Bedeutung und sind daher austauschbar.
Als Thesen gegen die moderne Massenfotografie gibt es zum Ende des Vortrags beispielhaft innovative Ansätze, die sich damit beschäftigen, die Fotografie vom Motiv zu lösen – um so das Augenmerk des Betrachters wieder auf den Prozess des Fotos und die Verbindung von Apparat, Mensch und Umwelt zu lenken.
Dazu zeigt Weiberg neuartige Kamerasysteme, die genau für diesen Zweck von den Fotografen eigenhändig konzipiert und gebaut werden, u.A. die „Lemons Camera“ von Aïm Deülle Lüski oder verschiedene Varianten der Camera Obscura, wie z.B. auch jene von Marcus Kaiser mit „z.T. Garten“. Diese Kameras werden nicht für Motive gemacht, sondern für das Bild an sich, weshalb man sie auch „Situationskameras“ nennt. Sie produzieren „Horizontale Fotografie“: ihr Bilder schaffen keine Klarheit oder „Typicality“ über die Welt, vielmehr sind sie eine Forderung nach neuen Bildfunktionen und kritischem Betrachten.
Die „Post-Photography“ sieht genau dies als die Funktion und Aufgabe der modernen Fotografie. Sie fordert ein Verständnis für die neue Beziehung zwischen Apparat und Mensch, einen neuen, kreativen Umgang mit dem Prozess an sich und eine reflektierte Einstellung für die Betrachtung von Bildern in einem konzeptionellen Zusammenhang. Anders als in der klassischen Fotografie ist es heute umso wichtiger, den Betrachter in das Bild miteinzubeziehen. Denn erst durch eine kritische Haltung und Beobachtung kann der modernen Fotografie eine Form der Identität gegen werden.