Veranstaltung
Kulturindustrie – Ein Interview
Buchveröffentlichung von Schweppenhäuser und Niederauer
Die neue Buchsammlung „Kulturindustrie“: Theoretische und empirische Annäherungen an einen populären Begriff von unseren Theorie-Professoren Martin Niederauer und Gerhard Schweppenhäuser ist veröffentlicht worden. In diesem Rahmen hat sich die Online.Redaktion ein kleines Interview ausgedacht. Wir wünschen viel Spaß und hoffen, dass wir Euer Interesse wecken konnten, für eine interessante Sammlung.
Über das Buch:
„Kulturindustrie“: Theoretische und empirische Annäherungen an einen populären Begriff
Herausgegeben von Martin Niederauer und Gerhard Schweppenhäuser
1947 publizierten Horkheimer und Adorno die Dialektik der Aufklärung. Von ihren Überlegungen zur Dialektik von Herrschaft und Befreiung, zu Aufklärung und faschistischer Barbarei hat das Kapitel über „Kulturindustrie“ sicher die breiteste und kontroverseste Rezeption erfahren. Was bleibt von ihrer These, Aufklärung finde nur mehr als Massenbetrug statt und Kultur schlage alles mit Ähnlichkeit? 70 Jahre später stellen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen (Soziologie, Philosophie und Medientheorie) dieser Frage. Sie aktualisieren die Kategorien der Kritik und überprüfen sie an Beispielen (von Eugène Delacroix über Peter Sloterdijk bis zu Harry Potter und Videospielen …). Damit wird das Potenzial eines zentralen Begriffs der Kritischen Theorie ausgelotet und für die Gegenwart fruchtbar gemacht.
Das Buch enthält Beiträge von Melanie Babenhauserheide, Fabio Akcelrud Durão, Daniel Martin Feige, Per Jepsen, Susanne Martin, Stefan Müller-Doohm, Shierry Weber Nicholsen, Martin Niederauer, Max Paddison, Konstantinos Rantis, Tilman Reitz, Christine Resch, Gerhard Schweppenhäuser, Hermann Schweppenhäuser, Andreas Sudmann und Heinz Steinert.
Erschienen bei Springer VS (ISBN: 978-3-658-15758-6).
Als E-Book ist der Band über den bekannten Springer-Link verfügbar (ISBN: 978-3-658-15759-3 // DOI: https://doi.org/10.1007/
Weitere Informationen gibt es direkt bei uns oder auch hier:
http://www.springer.com/de/
Ich habe den Begriff „Kulturindustrie“ vorher noch nie gehört. Dass dieser Begriff populär ist, hat mich gewundert. Was war die Idee dahinter, im Untertitel „Kulturindustrie“ als einen populären Begriff zu bezeichnen?
Gerhard Schweppenhäuser: Diesen Ausdruck haben Horkheimer und Adorno um die Mitte des 20. Jahrhunderts eingeführt. Er ist heute der bekannteste Begriff, wenn es um die Theorie der „Frankfurter Schule“ geht, die von Horkheimer und Adorno mitbegründet wurde. Bis zur Veröffentlichung der Dialektik der Aufklärung im Jahr 1947 sprach man in der Medienforschung von „Massenkultur“. Horkheimer und Adorno wollten klarmachen, dass diese Kultur gar keine Kultur der Massen ist, also keine, die die Massen selbst kreativ produzieren, sondern eine Kultur für die Massen. Man hat diese Epoche später das Zeitalter des „Fordismus“ genannt. In den westlichen Industrienationen sollten die sozialen Konflikte durch Vollbeschäftigung plus Massenkonsum befriedet werden. Die Menschen sollten viel arbeiten und viel konsumieren. Konsumieren tut man in der Freizeit. Die Kulturindustrie, also Film, Radio und Magazine – das war eine kleine Gratifikation für alle, deren Leben aus stumpfsinniger Industriearbeit bestand. Die Gratifikationen gab es nicht umsonst, sondern als Konsumwaren. Die wurden quasi am Fließband hergestellt, also nach den Regeln der Massenproduktion. Dabei verdoppelte die Kulturindustrie sozusagen die fremdbestimmten Arbeitsbedingungen. Man bekam keinen Ausblick auf ein anderes Leben, keine utopischen Bilder. Alles, was es hier zu sehen, zu hören oder zu lesen gab, war die falsche Welt noch einmal. Freizeit als seelisches Trainingslager für den Arbeitsalltag. Kurzum: Der Begriff „Kulturindustrie“ bezeichnet die permanente Durchsetzung kapitalistischer Herrschaft auf der kulturellen Ebene.
In ihrem Klappentext schreiben Sie, dass 70 Jahre später die Frage nach „Aufklärung als Massenbetrug“ und „Kultur schlage alles mit Ähnlichkeit“ im Raum steht. Warum kommt dieses Thema erst jetzt und nicht schon früher auf? Was ist in den letzten 70 Jahren passiert?
Martin Niederauer: Ein zentraler Kritikpunkt an Horkheimer und Adorno lautet, dass ihre Feststellungen heutzutage veraltet seien und keine Gültigkeit mehr besitzen würden. Verschiedene Disziplinen hätten längst aktuellere und zutreffender Theorieansätze geliefert, um das heutige Kulturleben zu untersuchen. Für uns war spannend zu sehen, wie WissenschaftlerInnen aus Philosophie, Soziologie und Medienwissenschaft heute mit dieser angeblich veralteten Theorie umgehen und inwiefern sich diese für heutige Analysen fruchtbar machen lässt. Und sie haben sich dafür kulturelle Phänomene ausgesucht, an die vor 70 Jahren noch niemand denken konnte. Beispielsweise, dass es Computerspiele gibt, in denen nicht nur kompetitive, sondern auch selbstreflexive Momente im Vordergrund stehen, dass PhilosophInnen Bestseller schreiben und eigene Talkshows haben oder dass ein Jugendbuch wie Harry Potter sich nicht nur millionenfach verkauft, sondern auch Fans dazu bewegt, die Erzählung umzuschreiben, um sich darüber die Bücher mitsamt ihren Inhalten auf ganz eigene Weise neu anzueignen. Und hier kommt wieder die „Dialektik der Aufklärung“ ins Spiel. Wie unsere AutorInnen in Anschluss an Horkheimer und Adorno nämlich zeigen, sind diese kulturellen Phänomene nicht entweder der Seite der Herrschaft oder der Seite der Befreiung zuzuschlagen. Hingegen sind sie dialektisch daraufhin zu befragen, inwiefern ihnen autonomiefördernde und repressive Momente immanent sind; wie auch repressive Momente die Autonomie der Menschen befördern und autonomiefördernde Momente neue Züge von Repression hervorbringen können.
Der Begriff „Kulturindustrie“ ist ein sich selbst recht gut erklärender Begriff. Auch die These, dass Aufklärung als Massenbetrug stattfindet, ist verständlich. Aber was genau ist eigentlich mit dem Satz „Kultur schlage alles mit Ähnlichkeit“ gemeint?
Gerhard Schweppenhäuser: Nicht nur die populäre Kultur wird durch und durch warenförmig gestaltet. Das Prinzip Kulturindustrie greift auf alle anderen Sparten über, auch auf die sogenannte Hochkultur. Im Prinzip ist das heute noch so, vielleicht sollte man sagen: heute erst recht. Auch wenn das Zeitalter des „Fordismus“ mit industrieller Vollbeschäftigung und sozialer Befriedung durch Populärkultur vorbei ist. Die politische Regulierung der Produktionsweise von heute nennt man „Postfordismus“. Es gibt keine lebenslangen Jobs, schon gar nicht in der Industrie. Immer mehr Menschen gehören zu den working poor. Wer besser ausgebildet ist, schlägt sich in prekären Beschäftigungsverhältnissen durch. Um das zu ertragen, helfen symbolische Gratifikationen, die Genüsse der „Kulturindustrie“. Gleichzeitig wird die Kulturindustrie als Produktionsfaktor immer wichtiger. Heute ist sie nicht nur Unterhaltungsindustrie, sie ist eine große Medien- und Bildungsindustrie geworden. Aber ihre Angebote öffnen uns nicht die Tür zur ästhetischen Freiheit. Sie verdoppeln die Zwänge fremdbestimmter Arbeit im symbolischen Bereich. Die „Ähnlichkeit“ von allem hängt mit der inneren Form aller Kulturprodukte zusammen, mit der Warenform. Hollywood-Kinoproduktion und Opern-Boom: Das sind zwei Seiten derselben Medaille. Ob ein Schlager produziert wird, den zwölfjährige Mädchen gut finden sollen, oder eine Konzertaufführung in der Hamburger Elbphilharmonie, ist im Prinzip egal. Gedichte, die nur Experten verstehen und schön finden, Daily Soaps – alles ist in erster Linie ein Medienevent. Erfolg hat, was Aufmerksamkeit erzielt. Das kann man dann „ranken“ und umso besser vermarkten. Dabei entsteht zwangsläufig Langeweile. Kulturprodukte und Kunstwerke werden auch im Erscheinungsbild immer ähnlicher. Interessant sind aber die Differenzen.
Würden sie dieses Buch uns Kommunikationsdesignern empfehlen? Wenn ja, warum? Worin liegt ihrer Meinung nach die Relevanz des Themas in der Aufgabe der Gestaltung?
Martin Niederauer: Die Frage, die sich Horkheimer und Adorno gestellt haben und an die die AutorInnen in unserem Buch anknüpfen, lautet: Wieso tritt eine Gesellschaft, die über ein jahrhundertelanges Voranschreiten von wissenschaftlicher Erkenntnis, technischen Erfindungen, wirtschaftlicher Produktivität, humanistischem Bildungswesen sowie Kunst und Kultur verfügt, nicht in einen »wahrhaft menschlichen Zustand« ein? Warum sind soziale Kälte, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit oder die Degradierung von Menschen auf austauschbare Produktionseinheiten nicht zu dezimieren? Wir verfügen doch längst über die materiellen und intellektuellen Ressourcen dafür. Viele Studierende wollen mit ihren Designprojekten Aufklärung über verschiedene soziale Missstände und Probleme leisten. Was sie hierfür produzieren und wie sie es produzieren, findet allerdings nicht außerhalb kapitalistischer Produktionsverhältnisse statt, und daher auch nicht außerhalb von Kulturindustrie. Damit steht zugleich zur Debatte, welchen Bedingungen Gestaltung unterliegt, was die Potenziale von gutem Design sind und wie schnell diese Potenziale aber auch in ihr Gegenteil umschlagen können. Kapitalistische Herrschaft ist in Architektur, Fernsehfilmen, Musik und deren Rezeption ebenso verankert wie in der Freizeitgestaltung. Zur Kapitalismuskritik gehört also auch der Gang ins Kino, der Blick auf YouTube und ins Feuilleton. An Spiderman, Woody Allen und Quentin Tarantino kommt man genauso wenig vorbei wie an den Performances von Beyoncé. Gerade für GestalterInnen, die den Anspruch haben, nicht nur eine ästhetisch ansprechende Oberfläche herzustellen, sondern auch an der Verbesserung gesellschaftlicher Verhältnisse mitzuwirken, liefert unser Buch sicher einige gute Denkanstöße. Es kann eine Reflexion der gestalterischen Praxis vielleicht ein wenig voranbringen.
Fragen von
Benedikt Ulrich
Vielen Dank an
Martin Niederauer und
Gerhard Schweppenhäuser
für Eure Kooperation.