Vortrag:
Prof. Dr. Samir Gandesha
12.5.25
Transgressive Populism and the Assertion of Sovereignty
Vortrag von Prof. Dr. Samir Gandesha (Simon Fraser-University, Vancouver, Canada) im Rahmen der International Week der THWS
Eine einflussreiche Auffassung des Populismus besagt, dass der Populismus auf dem Gegensatz zwischen einem moralisch „reinen“ Volk und einer „korrupten“ Elite beruht. Diese Definition ist unzureichend für das Verständnis des zeitgenössischen Populismus des 21. Jahrhunderts. Mit Hilary Clintons Charakterisierung der Trump-Anhänger als „Korb der Bedauernswerten“ im Wahlkampf 2016 scheint sich der Gegensatz umgekehrt zu haben: Das „Volk“ nimmt sein eigenes Bedauernswert-Sein gegen das identitätsbasierte Moralisieren der Eliten in Schutz. „Tragt euren Rassismus wie ein Ehrenzeichen!“ fordert Steve Bannon die europäischen Rechtsextremen auf.
Anstelle von Moral und Tabus gründet sich der zeitgenössische Populismus auf eine politische Theologie der Überschreitung (Transgression). Durch die Überschreitung jeder moralischen, epistemischen und ästhetischen Grenze manifestiert das „Volk“ seine Souveränität. Nigel Farage, Jair Bolsonaro, Javier Milei und insbesondere Donald J. Trump nutzen die sozialen Medien, um in direkter Kommunikation mit ihren Anhängern traditionelle Institutionen zu umgehen und sich über das öffentliche Gesundheitswesen, institutionelle, rechtliche, normative und andere Beschränkungen der Macht hinwegzusetzen. Die Unzufriedenheit derjenigen, die sich durch den moralisierenden Diskurs der liberalen Linken unterdrückt, bevormundet und entfremdet fühlen, wird als Waffe eingesetzt – und zwar eben zu dem Zeitpunkt, da sich ihre materiellen Lebensbedingungen rapide verschlechtern.
Übertretung (Transgression) bietet ein Gefühl der Orientierung, der Zugehörigkeit und des Sinns durch die Ablehnung der politischen Korrektheit. Drei deutliche Beispiele für eine solche Grenzüberschreitung: der Angriff auf das Kapitol am 6. Januar 2021, der wiederum die Belagerung Ottawas durch die so genannten „Trucker“ beeinflusste, und Jair Bolsonaros Versuch, den Sieg Lulas in Brasilien 2022 zu kippen.
Der Begriff des transgressiven Populismus stützt sich auf Georges Bataille und Michel Foucault sowie auf das Konzept des Spektakels von Guy Debord. Er hilft uns, den besonderen Reiz des Populismus des 21. Jahrhunderts zu verstehen: das Vergnügen, politisch korrekte Normen und Werte zu überschreiten, die als elitär und minoritär angesehen werden. Und er hilft uns, die Art und Weise zu verstehen, wie die Übertretung das Tabu nicht einfach leugnet, sondern transzendiert und vervollständigt. Der transgressive Populismus verspricht einen Bruch mit der zeitgenössischen kapitalistischen Gesellschaftsordnung, aber er trägt zu deren Vertiefung bei. Und zwar, indem er die Transgression in die „Gesellschaft des Spektakels“ (Debord) integriert nannte. Transgression ist eine Form der Pseudo-Rebellion.

Biographie:
Samir Gandesha wurde in Nairobi, Kenia, geboren. Er wanderte Mitte der 1960er Jahre mit seinen Eltern als Kleinkind nach Kanada aus. Mitglieder seiner Großfamilie wurden 1972 von Idi Amin aus Uganda vertrieben und kamen als Flüchtlinge nach Großbritannien. Er studierte er an der Simon Fraser-University, an der University of British Columbia und an der London School of Economics. Gandesha machte seinen MA und PhD an der York University in Toronto. Er war 1995-97 SSHRCC Postdoctoral Fellow an der University of California in Berkeley und 2001-2002 Alexander von Humboldt-Stipendiat an der Universität Potsdam.
Seit 2003 unterrichtet er an der Simon Fraser-University. Seit 2004 ist er Mitglied des Lenkungsausschusses des Institute for the Humanities und seit 2010 dessen Direktor. Er ist Visiting Fellow an der Benemérita Universidad Autónoma de Puebla (BUAP), Mexiko. Professor Gandesha hat über 100 Vorträge an Universitäten auf der ganzen Welt gehalten.
Zusammen mit Johan Hartle ist Gandesha Mitherausgeber der Bücher Spell of Capital. Reification and Spectacle (2017) und Aesthetic Marx (2017) sowie von The „Aging“ of Adorno’s Aesthetic Theory. Fifty Years Later, zusammen mit Johan Hartle und Stefano Marino, sowie Adorno and Popular Music. A Constellation of Perspectives (2019) mit Colin Campbell und Stefano Marino. Gandesha ist außerdem Herausgeber von Spectres of Fascism. Historical, Theoretical and International Perspectives.

