Dienstagsgespräch
Stefan Selke
Vom optimierten Selbst zum indizierten Menschen
Leben im Zeitalter digitaler Alchemie und assistiver Kolonialisierung
Vor allem durch alltagspopuläre Praktiken im Wellness-, Fitness- und Gesundheitsbereich erleben digitale Selbstvermessungstechnologien gegenwärtig einen Boom. Lifelogging, Self-Tracking und Quantified Self wurden zum Sinnbild rationaler und optimierter Lebensführung in einer zunehmend sozial erschöpften Gesellschaft. Das Spektrum digitaler Lebensprotokollierung reicht dabei von Sleep-, Mood-, Baby-, Senioren-, Sex-, über Work- bis hin zum Death-Logging. Smarte Technologien bieten Emanzipationspotenziale und versprechen zudem ungeahnte Effizienzgewinne. Zugleich manifestieren sie neue Normen, Standards und Konventionen durch die Verschiebung des gesellschaftlichen Orientierungsrahmens. Wer bestimmt in Zukunft noch, was „normal“ ist – Mensch oder Maschine?
Trotz ihrer smarten Anmutung können die hochmodernen Technologien nicht verbergen, dass das zugrundeliegende Wirkungsprinzip uralt ist: Algorithmisierung ist die Renaissance des alchemistischen Prinzips im Gewand digitaler Transformation: „Unedle“ menschliche Mängelwesen werden mittels korrelativer Macht und der Mustererkennung durch Algorithmen in „veredelte“ Träger sozial erwünschter Eigenschaften verwandelt. Leben basiert immer häufiger und ausschließlicher auf Kennzahlen und – im extremsten Fall – auf einem einzigen Index, der über soziale Chancen und Anerkennung entscheidet.
Auf dieser Basis stellen sich Fragen nach Entgrenzungen der kulturellen Matrix, den Langzeitfolgen für Individuum und Gesellschaft, den entlastenden und bevormundenden Aspekten technischer Assistenzsysteme und den Risiken kognitiver Entscheidungsmaschinen. Vorgestellt werden Anwendungen, die ethische Freihandelszonen etablieren, in denen Effizienz über Würde steht und die auf einer schleichenden Einwilligung in einen neuen Gesellschaftsvertrag basieren. Der Vortrag stellt vor dem Hintergrund des laufenden Forschungsprojektes „VALID- Ethische Aspekte digitaler Selbstvermessung“ (gefördert vom Bundesministerium für Gesundheit) sowohl Potenziale als Pathologien von Quantifizierung, Big Data und Künstlicher Intelligenz heraus und fragt kritisch nach, wo bei dieser Entwicklung der Mensch bleibt, bzw. wie sich das datengetriebene Leben in einer „smarten Welt“ in Zukunft darstellt.